Die Schwarze Kunst
Jahrhundertelang hat sie die Menschheit fasziniert, in ihren Bann gezogen: Gutenbergs Kunst des Druckens, die man auch die »Schwarze Kunst« nannte, weil sie geheimnisvoll war, teufelsmächtig schien und den Globus beinahe aus den Angeln gehoben hätte. Die Folgen waren umwälzend! Gab es bis dahin doch keinen anderen Weg, ein Buch herzustellen, als ein vorhandenes Exemplar in einem Scriptorium von Kopisten mühsam und zeitraubend Zeichen für Zeichen von Hand abschreiben zu lassen. Der Besitz eines Buches war etwas Kostbares, der nur wenigen vergönnt war. Wie folglich auch nur wenige lesen und schreiben konnten.
»Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert. Und mehr als das Blei in der Flinte, das Blei im Setzkasten«, kommentierte später Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) treffend den Beginn der Medienrevolution. Denn ohne die neu geschaffene Möglichkeit, Gedanken, Vorstellungen, Visionen, Informationen und Wissen rasch und in bisher nie gekanntem Maße zu verbreiten, sind alle entscheidenden Veränderungen in der Menschheitsgeschichte nicht denkbar. Die Reformation Martin Luthers war auf das gedruckte Wort genauso angewiesen wie die Französische Revolution oder andere gesellschaftliche Umbrüche. Alle Errungenschaften, auf die wir so stolz sind, wie allgemeine Bildung, Aufklärung, Demokratie oder Pressefreiheit; mehr noch, unsere ganze Zivilisation mit ihrer modernen Technik, den Erkenntnissen in Wissenschaft, Forschung und Medizin, verdanken wir weitgehend der genialen Idee, Texte mittels gegossener Lettern und der Druckpresse festzuhalten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht so überraschend, wenn in einer im Jahr 1997 von dem amerikanischen Magazin »Time-Life« durchgeführten Befragung nach den bedeutendsten Leistungen der Menschheit in dem gerade zur Neige gehenden zweiten Jahrtausend die Jury die Erfindung des Druckens als das entscheidendste Ereignis erachtete und Gutenberg zum »Man of the Millennium« erklärte.
Beginn einer Firmenphilosophie
Unter den wenigen Betrieben, die sich sorgfältiger Handwerksarbeit, also dem »Blei« und dem Buchdruck, verschrieben haben, nimmt die Offizin Haag-Drugulin seit eh und je einen besonderen Platz ein. Ihre Ausnahmestellung verdankt sie einer Reihe glückhafter Umstände. Als wichtigster erscheint rückblickend in der fast zweihundertjährigen Firmengeschichte, daß alle, die die Geschicke des Betriebes im Laufe der Zeit bestimmt haben, mit ganzer Seele in ihrem Beruf verwurzelt waren. Jeder einzelne von ihnen hat die Firmenphilosophie des Gründers, die die Offizin von Anbeginn zu einem Hort der Typographie und Schriftkultur gemacht hatte, konsequent und mit voller Überzeugung weitergetragen.
Die Anfänge reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, doch wird als Gründungsjahr 1829 angesehen, als Friedrich Nies die Druckerei übernahm. Auf Wanderschaft hatte er erkannt, daß sich mit einem reichen Schriftensortiment, besonders an orientalischen Schriften, gutes Geld verdienen ließ. Schon 1831 wurde deswegen eine Gießerei angegliedert. Bald war der Name der Offizin ein Synonym für Letternvielfalt und Schriftkultur. Bei orientalischen Sprachen machte die Offizin Ende des 19. Jahrhunderts selbst den Staatsdruckereien in Wien und Paris den Rang streitig. 1856 ging die Offizin von Nies an den Dänen Carl Berendt Lorck über, der bereits 1868 an Wilhelm Drugulin verkaufte.
Bereits die erste Probe des Hauses von 1835 zeigt Schriften der angesehensten deutschen Stempelschneider, darunter auch solche von Justus Erich Walbaum. Das Sortiment wurde ständig erweitert, wurde international. Schnitte aus Holland, England und Frankreich kamen hinzu, Alphabete der renommiertesten Schriftschneider wie zum Beispiel die ›Janson‹ gehörten dazu. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren es dann die Entwürfe zeitgenössischer Künstler wie Lucian Bernhard, Rudolf Koch, Paul Renner, F. H. Ernst Schneidler, Walter Tiemann und Emil Rudolf Weiss, die das Programm mit modernen Schnitten versahen.
Beziehungen zu renommierten Verlagshäusern
und namhafte Autoren
Ihre Blütezeit hatte die Offizin, die ihren Namen mittlerweile nach ihrem Besitzer in W. Drugulin geändert hatte, vor dem Ersten Weltkrieg. Schriftauswahl und Druckqualität schufen enge Beziehungen zu den bedeutendsten Verlagshäusern jener Zeit, beipielsweise zu S. Fischer, Ernst Rowohlt, Kurt Wolff, Eugen Diederichs und anderen. Renommierte Zeitschriften wie »Pan«, »Die Insel« oder »Der Genius« entstanden in den Werkstätten, auch die Reihe der Drugulin-Drucke, mit der Ernst Rowohlt gut ausgestaltete Ausgaben in höheren Auflagen zum günstigen Preis herausbrachte. Kurt Wolff, dessen Verlag der jungen Generation eine illustre Schar der bemerkenswertesten Autoren anzog, verdankte die Offizin viele Erstausgaben, die Literaturgeschichte gemacht haben. Erinnert sei an Georg Trakl, Franz Kafka, Franz Werfel, Walter Hasenclever, Max Brod, Robert Walser, Carl Sternheim, aber auch an Heinrich Mann und Karl Kraus.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg
Nach dem Ersten Weltkrieg fehlte das Geld für aufwendige Drucke. Die Offizin kam in Schwierigkeiten, die Gießerei mußte an die Stempel AG verkauft werden. Eine Fusion mit der Druckerei Haag aus Melle brachte nicht den erhofften Erfolg. Erst mit dem Erwerb durch Koehler & Volckmar 1931 konnte unter der Ägide von Ernst Kellner der gute Ruf der Offizin Haag-Drugulin wiederhergestellt werden. Am 4. Dezember 1943 wurden dann bei einem Luftangriff fast die ganze Produktion zerstört. In der selben Nacht starb auch Kellner bei dem Versuch etwas aus seinem brennenden Wohnhaus zu holen.
Die Offizin unter der Leitung von
Horst Erich Wolter
Der Neubeginn nach 1945 gestaltete sich schwierig. Haag-Drugulin blieb das Schicksal der Enteignung nicht erspart. Horst Erich Wolter, der an die Stelle Kellners trat, ist es zu danken, daß das Haus auch als volkseigener Betrieb dem typographischen Credo treu blieb. Das schlug sich nicht zuletzt in dem Wettbewerb der schönsten Bücher der DDR nieder. Keine Druckerei – in manchen Jahren waren es mehr als fünfzig Prozent – hat so viele Auszeichnungen erhalten wie die Offizin Haag-Drugulin, die 1954 zu Ehren des dänischen Schriftstellers in Andersen Nexö umbenannt worden war.
Selbst zu DDR-Zeiten wurden neue Schriften besorgt, das Vorhandene bewahrt. Das 1988, kurz vor der Wiedervereinigung erschienene Musterbuch der Offizin umfaßt knapp siebenhundert Seiten. Es enthält anderswo kaum mehr aufspürbare Raritäten, viele davon in Originalschnitten, darunter die ›Bessemer‹-Versalien, die es sonst nirgends gibt. Daneben eine große Zahl gebrochener Schriften – darunter die ›Breitkopf-‹, die ›Claudius-‹, die ›Unger-‹ und die ›Luthersche Fraktur‹ oder die ›Fleischmann-‹ und die ›Tiemann-Gotisch‹, um nur einige zu nennen. Wundervolle Alphabete, deren Formenreichtum wir heute – mit dem zeitlichen Abstand zu dem Regime, das sie so in Mißkredit gebracht hat – wieder mit anderen Augen unvoreingenommenen betrachten.
Viele Möglichkeiten durch die Monotype-Technik
Dieser Fundus wurde entscheidend erweitert, als im Jahr 1992 die Münchner Buchdruckerei SchumacherGebler die Offizin übernahm und ihre Schriften in das Unternehmen einbrachte. Der Schriftenkatalog aus Bayern hatte einen kaum geringeren Umfang. Er enthielt nicht zuletzt viele Schriften westdeutscher Gießereien aus der Nachkriegszeit, die in der DDR kaum zu bekommen waren. Somit ergänzten sich die beiden Schriftenbestände in idealer Weise. Zusammen bilden sie ein kulturelles Vermächtnis, das in der Form vermutlich kein zweites Mal existiert. Es reflektiert die glänzende und in der Geschichte einmalige Schaffensperiode des 20. Jahrhunderts, in der das deutsche Schriftgießereigewerbe mit außerordentlichen künstlerischen wie technischen Leistungen in der Welt eine herausragende Stellung einnehmen konnte. In nicht unerheblichem Maße ist das jener Generation von Künstlerpersönlichkeiten zu verdanken, deren scheinbar unermeßlicher schöpferischer Ideenreichtum eine grandiose Vielfalt an Schriftformen hervorbrachte.
Doch die westdeutschen Handsatzschriften waren nur ein Teil der »Münchner Mitgift«. Als zukunftsträchtiger und von größerer Bedeutung für die zu erfüllenden Aufgaben einer reinen Buchdruckerei erwiesen sich die immensen Bestände an Monotype-Matrizen, die nun ebenfalls in den Besitz der Offizin gelangten. Zwar war diese Technik hier nicht unbekannt; bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Monotype bei der OHD Einzug gehalten. Die Auswahl konzentrierte sich aber mehr auf Werk- und Standardschriften. Anders die Situation bei SchumacherGebler in München. Dort zählten zum Kundenkreis vornehmlich Werbeagenturen, die auch bei der Schriftwahl stets das Außergewöhnliche, das Neue, das Unbekannte suchten. Es war zudem die Zeit, als der Fotosatz bereits Einzug gehalten hatte und nun innerhalb des Hauses dem Monotype-Verfahren Konkurrenz machte. Die Anlage war neu und noch längst nicht amortisiert. Die einzige Möglichkeit, sie auch in Zukunft auslasten zu können, schien nur in der Erweiterung des Angebots zu liegen, in erster Linie mit ausgefallenen Schriften oder solchen, die es im Fotosatz nicht gab. Gebrauchte Matrizensätze – alles andere hätte wirtschaftlich keinen Sinn ergeben – ließen sich günstig von den zum Fotosatz wechselnden Großbetrieben – nur dort war diese Technik in der Regel installiert – erwerben. Insgesamt war es ein gutes Dutzend Großbetriebe, darunter in der Branche wohlbekannte Namen wie Brügel, William Clowes in England, Oldenbourg, Passavia, Stulle oder das Druckhaus Tempelhof, darüber hinaus die Hausdruckerei der Monotype in England selbst, deren Matrizen nun in den Besitz von SchumacherGebler gelangten. Nicht weniger illuster war die Reihe der dabei erworbenen Schriften. Obwohl alle von international renommierten Schriftkünstlern entworfen, waren manche in Deutschland nie oder nur ganz selten zum Einsatz gekommen. Erwähnt seien, um nur einige zu nennen, die Schnitte der ›Barbou‹, ›Bulmer‹, ›Centaur‹, ›Fontana‹, ›Imprint‹, ›Lutetia‹, ›Perpetua‹, ›Spectrum‹, ›Van Dijck‹ sowie – neben einer Reihe klassischer Frakturschriften – die ›Antigone‹ und die ›New Hellenic Greek‹. Zu den renommierten deutschen Schriftkünstlern gesellte sich nun ein Kreis von internationalen Kollegen wie Morris Fuller Benton, Adrian Frutiger, Eric Gill, Frederic William Goudy, Jan van Krimpen, Giovanni Mardersteig, William Martin, Bruce Rogers und andere.
Die Offizin heute
Die geschilderte typographische Vielfalt hat aber auch ihre Kehrseite: Tausende Schriften lassen sich in beliebigen Größen als immaterielle Fonts auf einem Datenträger unterbringen, der sich in jede Aktentasche bequem einstecken lässt. In natura, als »begreifbare« Lettern – mit einem eigenen Schriftkasten für jeden Grad – sind dies nur schwer zu bewegende Schätze, die zudem unendlich viel Platz benötigen.
Endlos reihen sich die »Gassen« mit den Schriftregalen in den Räumen der Offizin Haag-Drugulin. Durchschnittlich zwanzig Setzkästen, jeweils übereinander angeordnet, enthält ein Regal. Größere Schriftregale sind auch mit doppelt so vielen Kästen ausgestattet; mit breiteren, unterteilten Kästen für die »Brotschriftgrade«, bestimmt für fortlaufende Texte. Daneben die ungeteilten, schmaleren für die Auszeichnungsgrade, für die Steckschriften. Dazu kommen die vielen Regale mit den verschiedenartigsten Zügen für die Unterbringung der Matrizen, des Blindmaterials und allem, was sonst noch zu einer Setzerei gehört. Wollte man alle Setzkästen und Schubzüge der insgesamt 255 Regale nebeneinanderlegen – zusammengerechnet ergäbe sich eine Zahl von etwa 6.800 –, so würde die Hälfte eines Fußballfelds dafür nicht ausreichen. Oder andersrum: Alle Regale aufeinandergestellt ergäben einen Turm von 284 Metern Höhe, der damit an den Eiffelturm in Paris heranreichen würde; bei dessen Errichtung zur Weltausstellung 1889 war er damals mit seinen dreihundert Metern das höchste Bauwerk der Welt.
Blei ist bekanntlich schwer und so hat alles zusammen – die Schriften, der Stehsatz, das Blindmaterial, die Vorräte sowie das für die Produktion im Umlauf befindliches Material – ohne die Maschinen und ohne die Matrizen – das stolze Gewicht von etwa zweihundertzwanzig Tonnen. Bei derlei Zahlenspiel wird oft die Frage gestellt, wie viele Buchstaben denn in all den Setzkästen nun enthalten seien. Zugegeben, gezählt hat sie noch niemand, doch zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen sind es bei vorsichtiger Schätzung allemal. Selbst die Anzahl der Monotype-Matrizen überschreitet die Millionengrenze, wobei etwa 950.000 auf Matrizen für den Satz fortlaufender Texte entfallen und etwa 180.000 auf Matrizen für den Guß von Einzelbuchstaben.
Die Offizin ist heute ein einzigartiger Spezialbetrieb für handwerkliche Buchkunst. Den Schwerpunkt der Aufträge bilden mit Originalgraphik ausgestattete Künstlerbücher in limitierten Auflagen. Regelmäßig sind Arbeiten des Hauses unter den ausgezeichneten Titeln entsprechender Wettbewerbe zu finden.